Tempo, Takt und Rhythmus – Wichtig fürs Essen und Altern?
Adipositas-assoziierte Erkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes mellitus, koronare Herzkrankheit und Arteriosklerose, aber auch neurotische und psychotische Erkrankungen sind mittlerweile in allen entwickelten Industrienationen, aber auch in Schwellenländern auf einem unaufhaltsamen Vormarsch. Machte man über Jahre hauptsächlich eine zu hohe Kalorienzufuhr für die adipositas-assoziierten Erkrankungen verantwortlich, so zeigt sich heute, dass das Ursachspektrum viel weitreichernder ist als bisher angenommen. In den letzten Jahrzehnten haben wir einen grundlegenden Paradigmen- Wechsel durchlebt: Bestimmte über Jahrtausende der Grundsatz „Bewegung muss sein – Essen kann sein“ unser alltägliches Leben, so hat sich dieser in den letzten Jahrzehnten in sein Gegenteil gekehrt: „Bewegung kann sein – Essen muss sein“. Mit dem Aufkommen der Personal-Computer hat sich diese Entwicklung noch einmal beschleunigt. Die tägliche Bewegungsaktivität sinkt immer mehr und gegessen wird heute nicht mehr nur aus kalorischem Bedürfnis, sondern aus unterschiedlichen emotionalen Situationen heraus, beispielsweise zur Belohnung oder zum Stressabbau. Zunehmend wird jedoch erkannt, dass wir in einem komplexen adipogenen Umfeld leben. Zu diesem gehören neben dem genannten Paradigmenwechsel auch das Ignorieren oder Verdrängen von uns innewohnenden circadianen und circannualen biologischen Rhythmen, dem natürlichen Wechselspiel von Spannung-Entspannung, Ruhe-Unruhe, Speichern-Entspeichern, Aktivität-Passivität, Schlafen und Wachsein. Eine chronisch über den Bedarf erhöhte Kalorienzufuhr, hauptsächlich in Form von Kohlenhydraten und Fetten, führt in vielen Zellen zu oxidativem Stress, mitochondrialer Dysfunktion und schließlich Diabetes. Durch den Verzehr von Snacks zwischen den Mahlzeiten über den Tag verteilt bis in den späten Abend werden Leber, Muskel und Fettgewebe in einem permanenten Speicherzustand gehalten. Zu kurze Schlafphasen führen zu einer verminderten Ausschüttung von Wachstumshormon. Essen unter Stress führt im Fettgewebe über komplexe Signalwege zu einer erhöhten Bildung von Neuropeptid Y (NPY), einem Hormon, welches normalerweise im Gehirn ein starkes Hungersignal auslöst. Die erhöhte Bildung von NPY im Fettgewebe geht einher mit einer verstärkten Expression von NPY-Rezeptoren auf der Fettzelle. Die verminderte Sekretion von Wachstumshormon einerseits und die verstärkte Wirkung von NPY im Fettgewebe führen zu einer weiteren Neubildung von Fettgewebe, hauptsächlich in der visceralen Region und damit zu einer weiteren Zunahme von Adipositas mit ihren Folgen. Schließlich wird auch unser inneres Uhrwerk, sowohl das zentrale als auch das periphere durch die genannten Prozesse in seiner Funktion gestört, was wiederum die Regulation wichtiger kardiometabolischer Prozesse stört. Einige dieser Prozesse sind allerdings durch eine veränderte Lebensweise nicht nur zu stoppen sondern teilweise sogar umkehrbar. Das belegen Daten aus neueren Studien zum Einfluss von intermittierender Kalorienreduktion bzw. intermittierendem Fasten auf die Prävention dieser Erkrankungen bzw. die Reduktion lebensverkürzender Risikofaktoren.
Michael Boschmann, Berlin
Klinischer Pharmakologe, Stoffwechselexperte und AG-Leiter am Franz-Volhard-Centrum für Klinische Forschung an der Charité Universitätsmedizin Berlin.
Er ist Mitglied der Gesellschaft für Biochemie und Molekularbiologie, Deutsche Gesellschaft für Adipositasforschung, North American Association for the Study of Obesity, American College of Nutrition und ÄGHE. Forschungsschwerpunkte: Interaktion von Herzkreislaufsystem, Energiestoffwechsel und autonomen Nervensystem bei verschiedenen Krankheitsbildern.